Die letzte Fahrt der Demeter

Man sollte meinen, dass in den gut hundert Jahren, in denen Filmregisseure und Drehbuchschreiber sich den „Dracula“-Roman von Bram Stoker zur Vorlage nahmen, bereits jede erdenkliche Schwerpunktsetzung und Variation erprobt worden ist. Nimmt man das Buch wieder einmal zur Hand, muss man aber feststellen, dass Stoker darin durch den Wechsel zwischen Tagebucheinträgen, Briefen, Telegrammen und Zeitungsberichten so viele Erzählfäden spinnt, dass sich daraus schon rein stofflich noch immer neue Geschichten stricken lassen.

Einen dieser Fäden hat nun der norwegische Horrorregisseur André Øvredal mit „Die letzte Fahrt der Demeter“ aufgenommen. Im Buch umfasst die entsprechende Passage, ein Auszug aus dem Logbuch des Schiffs Demeter, nur wenige Seiten und beschreibt dessen Überfahrt von Warna nach England, bei der nach und nach die Mannschaft verschwindet und Gerüchte über einen mordlustigen blinden Passagier an Bord die Runde machen.

Øvredal beginnt seinen Film mit dem Ende dieser Fahrt: Während eines tobenden Sturms läuft im August 1897 ein russischer Schoner im englischen Whitby auf Land. Ein Leuchtturmwärter holt den zuständigen Constable aus dem Bett, sie steigen im peitschenden Regen zum Strand hinab, auf dem das Schiffswrack liegt, und finden die Aufzeichnungen des Kapitäns, die mit den Worten beginnen: „Dieses Logbuch ist eine Warnung, wenn Sie es finden, möge Gott Ihnen beistehen.“

Diese Worte stammen allerdings nicht von Stoker, die Drehbuchautoren Zak Olkewicz und Bragi Schut haben sie hinzugedichtet. Und das ist nicht der einzige Teil der Geschichte, der sich von der Vorlage löst. Zur ursprünglichen Besatzung („fünf Matrosen, zwei Maate, ein Koch“) gesellen sich hier ein junger Mediziner (Corey Hawkins spielt ihn als ersten schwarzen Cambridge-Absolventen) und ein Schiffsjunge, der Enkel des Kapitäns, der sich um die Tiere an Bord kümmern soll. Zudem findet die Mannschaft kurz nach der Abfahrt in einer der Kisten, die sich, mit dem Symbol des transsilvanischen Grafen versehen, im Laderaum stapeln, eine junge bewusstlose Rumänin, an deren Hals und Rücken der Arzt Bissspuren entdeckt und die er nur anhand von Bluttransfusionen retten kann.

Leider zeigt sich, dass Olkewicz und Schut bislang nur mit wendungsreichen Horrorfilmen, wie dem Teenage-Splatterfilm „Fear Street 2“ (Olkewicz) oder dem Psychohorrorfilm „Escape Room“ (Schut), Erfahrung haben. Für die Figuren und ihre Hintergrundgeschichte interessieren sie sich wenig, lassen also die Gelegenheit verstreichen, aus den neuen Ideen etwas Komplexes zu schaffen.

Das bleibt den Schauspielern überlassen, die tatsächlich aus den groben Vorgaben ihrer Charaktere glaubhafte Menschen mit Emotionen zu holen versuchen. Hawkins lässt seinen Arzt verzweifelt mit den Methoden der Wissenschaft und der Berufung auf Vernunft und Verstand gegen das Übernatürliche ankämpfen. Aisling Franciosi gibt ihrer Anna, der einzigen Frau an Bord, mehr Mut im Wettstreit gegen das Grauen, als ihn die meisten Männer der Crew mitbringen, wenn sie mit trotzigem Blick nach einem Gewehr greift, um sich Dracula zu stellen. Und David Dastmalchian, dessen eindrucksvolles Gesicht man bislang nur in unvergesslichen Nebenrollen von „Twin Peaks“ über „The Suicide Squad“ bis „Oppenheimer“ sehen konnte, nutzt hier jede Minute, die er als wütender Erster Maat bekommt, um davon zu überzeugen, dass einem Seemann das Schiff wie etwas Lebendes am Herzen liegen kann.

Versucht mit wissenschaftlichen Methoden gegen das Grauen vorzugehen: Corey Hawkins als Arzt an Bord der Demeter.


Versucht mit wissenschaftlichen Methoden gegen das Grauen vorzugehen: Corey Hawkins als Arzt an Bord der Demeter.
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Bild: Universal Studios

Bleibt die Frage: Wie gut ist das Monster? Nun steht man bei Dracula natürlich immer vor dem Problem, ihn schon in fast allen Ausführungen und Lebenslagen gesehen zu haben, mal expressionistisch-gothicdüster in F. W. Murnaus „Nosferatu“ (1922), mal übermenschlich-mächtig von Christopher Lee („Dracula“, 1958), mit Sex-Appeal von Bela Lugosi („Dracula“, 1931), mal melancholisch von Gary Oldman gespielt in Francis Ford Coppolas Interpretation („Dracula“, 1992) und unlängst manisch-irre kichernd von Nicolas Cage in „Renfield“ (2023).

Der Graf, der auf der Demeter aus der Kiste steigt, hat hingegen wenig Menschliches an sich, die spitzen Fingernägel könnte er sich von Murnau geliehen haben, der Rest schwankt zwischen mannshoher Fledermaus und Gollum – was nicht heißen soll, dass man sich davor nicht auch gruseln kann.

So liefert Øvredal mit seinem Dracula eine Antwort auf die Frage, warum sich im Roman dieser mächtige Fürst der Finsternis während seiner Überfahrt so irrational verhält, warum er, wo er doch unbedingt nach England kommen will, die Mannschaft, die ihn dorthin bringen kann, dezimiert.

Øvredals Dracula agiert nicht wie ein Mensch, ja nicht einmal wie ein instinktgeleitetes Tier, er verhält sich eher wie ein Virus. Und dagegen, das hat die Pandemie gelehrt, helfen kein Aberglaube, sondern nur Wissenschaft und Vernunft.

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