Die Ohren der Berliner schlafen nie

Lärm machen immer nur die anderen. So viel ist sicher. Und all das, was wir selbst verursachen, ist kein wirklicher Lärm. Das sind bestenfalls notwendige Alltagsgeräusche. Wir leben in Berlin und wissen, dass es in einer Millionenstadt niemals wirklich völlig ruhig ist. Deshalb nehmen die meisten auch Rücksicht auf ihre Nachbarn.

Jetzt werden sicher viele ungläubig den Kopf schütteln. All jene, die über einer Kneipe wohnen oder an einem Park, in dem Techno-Partys gefeiert werden. All jene, die unter der Wohnung von Leuten leben, die auch zu Hause immer mit klackernden Hackenschuhen übers Billig-Laminat laufen. All jene, deren Nachbarn gern, oft und schlecht E-Gitarre spielen – auch mal nachts um eins. In einer Großstadt ist die Zahl der lästigen Störfälle durch Krach endlos. Doch wie hört sich der alltägliche Sound von Berlin an?

Laut ist es fast überall, denn überall sind Menschen und fast überall ist Musik. Sie begleitet uns in die Anprobekabinen im Kaufhaus und bis in die Toilettenräume von Restaurants. Dazu kommt der Verkehr – die größte Lärmquelle in Städten. Also ab zur Leipziger Straße, zu der Hauptverkehrsader im Herzen von Berlin, der Straße mit dem lautesten Abschnitt in der Innenstadt.

Zum Tag des Lärms am 26. April ist das der richtige Ort, um mit einem Experten darüber zu sprechen, was ein Geräusch vom Lärm unterscheidet. Und warum sich viele gestresste Großstadtmenschen einerseits nach Ruhe sehnen, sie andererseits nicht lange ertragen, weil ihre Ohren eine wirklich tiefe Stille nicht gewohnt sind.

Die Leipziger Straße ist das Gegenteil von Stille. Sie ist eine sehr breite Schneise zwischen hohen Hochhausblocks. Sie bietet reichlich Platz für Autos. Dort wartet der Lärmexperte Michael Jäcker-Cüppers. Es ist 9.12 Uhr am Morgen, später Berufsverkehr. Die Fahrzeuge donnern auf jeweils drei Spuren in beide Richtungen. Unzählige Autos, Laster, Busse, Mopeds. Unaufhörlich. Jäcker-Cüppers steht auf dem schmalen Streifen in der Mitte und hört dem Verkehr zu. Nur wer sich ein paar Minuten lang ganz bewusst diesem Getöse aussetzt, begreift, wie laut dieses Alltagsgeräusch ist.

Lärm kann massiv schädigen

„Lärm sind all jene Geräusche, die uns negativ auffallen, die uns stören und nerven, die uns bewusst oder unbewusst beeinträchtigen, belästigen und die unsere Gesundheit schädigen können“, sagt Jäcker-Cüppers. Der 79-Jährige arbeitete bis 2009 im Umweltbundesamt, hat noch immer einen Lehrauftrag an der TU Berlin zum Thema „Städtebaulicher Lärmschutz“ und ist in einer Gruppe aktiv, deren Name fast alles sagt: Arbeitsring Lärm der Deutschen Gesellschaft für Akustik.

Er holt einen Schallpegelmesser heraus. Der Verkehr ringsum ist nicht nur ein dumpfes Dröhnen. Da ist dieses aggressive Brüllen, als ein blauer Porsche mit präpariertem Auspuff noch schnell die Spur wechselt, um einen Kleinwagen zu überholen, bevor er voll in die Eisen gehen muss, weil die Ampel längst auf Rot steht. Oder das Aufheulen des Motorrads, als der Fahrer auf der Tempo-30-Strecke kurz Vollgas gibt und über alle drei Spuren zickzack fährt.

Das Messgerät zeigt 81,2 Dezibel: Der Grenzwert beim Verkehr liegt bei 65, alles darüber kann zu ernsthaften gesundheitlichen Folgen führen.

Das Messgerät zeigt 81,2 Dezibel: Der Grenzwert beim Verkehr liegt bei 65, alles darüber kann zu ernsthaften gesundheitlichen Folgen führen.Benjamin Pritzkuleit

Als ein Stück entfernt ein Krankenwagen die Sirene aufheulen lässt, schaltet Jäcker-Cüppers schnell das Messgerät ein. „86,7 Dezibel“, sagt er. „Aber beim Verkehrslärm kommt es gar nicht so sehr auf einzelne, besonders laute Vorbeifahrpegel an.“ Der wichtigste Indikator für eine Beeinträchtigung von Anwohnern sei der sogenannte Dauerschallpegel. Deshalb hält er das Messgerät nun fünf Minuten in die Höhe, um einen Mittelpegel zu ermitteln.

Die Ampel schaltet auf Grün. Die Autos in der langen Schlange rucken langsam an. Die einen drängeln, andere lassen sich Zeit. Hupen plärren, Motoren heulen, Bremsen quietschen. Autos, Taxis, Lkw. Wo kommen die bloß alle her? Und wo wollen sie hin? Kaum hat sich die Schlange halbwegs aufgelöst, ist wieder Rot und eine neue Schlange bildet sich. Dutzende Autofahrer, ungeduldig wie Sprinter an der Startlinie. Nach 39 Sekunden wieder Grün, 87 Sekunden später wieder Rot. So geht es immer weiter und weiter. Als die fünf Minuten vorbei sind, sagt Jäcker-Cüppers: „Genau 71,0 Dezibel. Ein typischer Wert an einer Hauptverkehrsstraße.“

„Das Hören ist auch ein Alarmanzeiger“

Zur Einordnung: Der Grenzwert liegt bei 65 Dezibel, alles darüber gilt als gesundheitlich problematisch. „Wer an dieser Straße mal zwei Nächte lang schläft, bekommt keine Probleme“, sagt er. „Wer hier aber zehn Jahre lang wohnt, hat ein deutlich erhöhtes Risiko für Erkrankungen.“ Er zählt auf: Herz-Kreislauf, Depressionen, Herzschwäche, Schlaganfälle, Herzinfarkte. Alles keine Kleinigkeiten, und doch sagen viele Anwohner: Ich bekomme das gar nicht mehr richtig mit. Ich habe mich dran gewöhnt.

Jäcker-Cüppers hebt die Hand und lauscht wieder. Der Verkehr rauscht, tost und brummt, dazu wieder eine Sirene und dann ein Lkw mit einem sehr laut polternden Stahlcontainer für Bauschutt. „Geräusche und Lärm sind Stressoren“, sagt er. „Sie bewirken eine körperliche Reaktion.“ Auch und besonders im Schlaf. Selbst wenn die Geräusche unterhalb der Aufweckschwelle bleiben, bekommt das Unterbewusstsein alles mit und der Körper reagiert auf den Dauerstress. „Der Mensch schläft zwar“, sagt er, „aber die Ohren schlafen nie.“ Unsere Ohren seien nicht nur dafür da, dass wir bei Gesprächen gut zuhören können. „Das Hören ist auch ein Alarmanzeiger.“ Und meist ist das Geräusch bereits zu hören, bevor die Quelle zu sehen ist.

Berlin, Leipziger Straße: Auch nachts ist es hier nicht leise. Um den Lärm dieser Straße unter die Grenzwerte zu senken, dürfte hier nur noch etwa ein Zehntel der Fahrzeuge unterwegs sein.

Berlin, Leipziger Straße: Auch nachts ist es hier nicht leise. Um den Lärm dieser Straße unter die Grenzwerte zu senken, dürfte hier nur noch etwa ein Zehntel der Fahrzeuge unterwegs sein.Soeren Stache/dpa

Jäcker-Cüpper geht nun von der Straße hinunter auf den sehr breiten Fußweg: 23 Schritte sind es vom Rand der Fahrbahn bis zur Hauswand. Er zeigt hoch zu den Balkonen, hinter denen die Menschen wohnen, dann zeigt er auf den Obdachlosen, der in einem grellgrünen Schlafsack an der Hauswand liegt: „Alle sind hier einer Dauerbelastung ausgesetzt, aber der Obdachlose kann nicht mal das Fenster schließen.“ Wieder schaltet er das Messgerät an. Die Frage ist: Wie viel Lärm kommt in den Wohnungen an?

Derweil steht eine selbst ausgedachte Übung an: Wahrnehmen für Anfänger. Zuerst heißt es: Augen schließen und lauschen. Ja, der Lärm scheint immer lauter zu werden. Dann: Augen auf und nur noch aufmerksam umsehen. Schon bald ist klar: Das Ganze ist eine Art sehr lauter Stummfilm. Die Ohren hören einen zähen Lärmbrei, und die Augen sehen die dazugehörigen Fahrzeuge. Aber dort gehen auch vier Spaziergänger, von deren Gespräch kein Wort zu verstehen ist. Dort vorn ist ein Mann mit Hund. Das Tier zieht an der Leine und gibt Töne von sich. Das ist zu sehen, aber zu hören ist nichts davon. Auch nicht vom Gesang der Vögel in den Bäumen, die immer dann wild auffliegen, wenn die Autos anfahren.

Plötzlich sind alle vier Ampeln in der Nähe gleichzeitig rot. Alle Autos stehen. Der Geräuschpegel sinkt so weit, dass tatsächlich das Singen der Vögel zu hören ist. Genau zwei Sekunden lang. Dann kommen Autos aus der Seitenstraße, und ihr Lärm verschluckt alles andere.

Jäcker-Cüppers tritt von der Hauswand weg, das Gerät zeigt 61,4 Dezibel. Nur kurz unter dem Grenzwert, der tagsüber gilt. Für die Nacht liegt die Grenze bei 55 Dezibel. Viele schlafen bei angekippten Fenstern. Das ist dann so, als würden zwei Leute an ihrem Bett sitzen und die ganze Nacht lang ein leises Gespräch führen. Ruhe klingt anders.

Konzert der Hardrock-Band AC/DC: für die Fans eine musikalische Krönung, für andere eine akustische Körperverletzung

Konzert der Hardrock-Band AC/DC: für die Fans eine musikalische Krönung, für andere eine akustische KörperverletzungScanpix_Norway/dpa

Michael Jäcker-Cüppers geht in Richtung Friedrichstraße. Dort wird es enger, vier statt sechs Spuren, keine überbreiten Fußwege, sondern Häuserwände gleich am Bordstein. Er holt eine Karte heraus, auf dem die Lärmwerte eingezeichnet sind und zeigt auf die Hausnummer 96. Dort sind 81,3 Dezibel als „gewichteter Ganztagespegel“ eingezeichnet. Die lauteste Stelle dieser Straße und wohl die lauteste im Zentrum von Berlin.

Der Experte misst hier fünf Minuten lang. Da der Berufsverkehr um kurz vor elf Uhr abebbt, sind es 72,2 Dezibel. Das sind doch gerade mal 1,2 mehr als vorhin an dem viel breiteren und ruhigeren Abschnitt. Doch 1,2 Dezibel sind in diesem Fall viel: Vorhin war Jäcker-Cüppers ziemlich problemlos zu verstehen, nun nicht mehr. Das liegt am Straßenlärm und nicht daran, dass dieser ruhige Mann mit dem weißen Bart eher ein Mann leiser Worte ist.

An einem solch tosenden Ort wird schnell klar: Stille ist sehr viel mehr als Schweigen. Vor allem aber: Stille kann nicht so leicht erzeugt werden wie all der Lärm, den wir ständig machen.

Auf der Suche nach dem leisesten Ort

Nun geht es zum vielleicht leisesten Ort in der Mitte von Berlin. Der ist von der lautesten Stelle nicht mal zwei Kilometer entfernt. Einfach die Leipziger weiter nach Westen, über den Potsdamer Platz und hinein ins frische Grün des Tiergartens. Je weiter wir uns von den Straßen entfernen, umso klarer wird, wie Verkehrslärm wirkt: An der Leipziger konnten die Ohren noch das Auf und Ab unterscheiden, wenn die Motoren im Takt der Ampeln laut und leise wurden. Aber aus der Entfernung ist alles nur noch ein dicker, zäher Brei. Ein Dauergrollen.

Am Rhododendronhain ist das Dröhnen des Potsdamer Platzes etwa gleich weit entfernt vom Brummen der Straße des 17. Juni. Der Hain ist die Mitte zwischen dem Lärm ringsum. Ein Ort der Stille. Das ist jedenfalls der erste Eindruck nach 90 Minuten Bremsen und Gasgeben, Hupen und Sirenen.

Die Ruhe zeigt schnell Wirkung. Erst wird der Atem ruhiger, dann entspannen sich die hochgezogenen Schultern. Wir sprechen leiser, reden nicht mehr so viel, schauen mehr. Michael Jäcker-Cüppers geht zum Ufer des Teiches, schaut hinunter zu den Enten im Wasser und hinauf zu den Vögeln in den Bäumen. Wieder schaltet er das Messgerät ein. Wieder fünf Minuten Schweigen.

Der Tiergarten in Berlin: sieht schön ruhig aus, aber selbst hier gibt es reichlich Geräusche

Der Tiergarten in Berlin: sieht schön ruhig aus, aber selbst hier gibt es reichlich GeräuscheFabian Sommer/dpa

Je länger es dauert, um so hörbarer wird: Auch hier ist es nicht still. Dort die beiden Mandarin-Enten, die miteinander balzen, die schnattern und mit den Flügeln schlagen, bis das Wasser spritzt. Dann das Gratiskonzert der Vögel in den Wipfeln. Selbst Laien erkennen mindestens sechs verschiedene Arten, die singen oder trillern, zwitschern oder tirilieren. Sie sind definitiv nicht leise. Michael Jäcker-Cüppers zeigt den Mittelwert: 50,4 Dezibel. „Das ist schon ganz schön leise, aber nicht wirklich still.“

Beim Lärm geht es nicht nur um die Lautstärke, sondern auch darum, was oder wer ihn verursacht, sagt er. Ein Wasserfall sei ähnlich laut wie ein Güterzug. Aber in der Wahrnehmung der meisten ist das eine gut, das andere schlecht. Das heißt: Stille nehmen wir meist als das Fehlen von störenden technischen Geräuschen wahr. Das heißt aber auch: Die Natur lärmt eigentlich nie. Nur der Mensch.

„Bei jedem Geräusch kommt eine ganz persönliche Interpretation dazu“, sagt Michael Jäcker-Cüppers. „Das beste Beispiel für die unterschiedliche Wahrnehmung von Geräuschen ist Musik.“ Wenn irgendwo die Hardrock-Band AC/DC ein Konzert gibt, ist das Lärminferno der Gitarre von Angus Young für Fans die Krönung, für Leute, die am Stadion wohnen, kann es an akustische Körperverletzung grenzen.

Wie sehr Lärm nervt, ist auch daran zu erkennen, dass es viele Worte für all die Varianten des Krachs gibt. Das geht von Lärm über Radau, Getöse und Krawall bis zum Höllenlärm. Aber für die Stille gibt es nur wenige Worte: ruhig, geräuschlos, lautlos, friedlich. Dann wird es recht schnell negativ. Von Totenstille ist die Rede oder von Friedhofsruhe. Warum eigentlich?

Am stillsten Platz: Michael Jäcker-Cüppers im Herzen des Tiergartens

Am stillsten Platz: Michael Jäcker-Cüppers im Herzen des TiergartensJens Blankennagel/Berliner Zeitung

„Ganz einfach“, sagt der Experte. „Wer lärmt, der lebt.“ Gespräche, Lachen, Singen, das Geschrei von Kindern – all das sind Zeichen von Lebendigkeit. „Die meisten würden absolute Stille nicht lange aushalten. Absolute Stille gibt es nur im Weltall, aber dort gibt es kein Leben.“

Dazu kommt: Stille kann auch Stress sein, kann verängstigen. Je leiser die Welt ringsum, umso lauter die Gedanken im eigenen Kopf, die Sorgen, die Ängste. Da sind Geräusche oft eine willkommene Ablenkung. Lärm kann auch ansteckend sein. Wenn in einer Kneipe der Alkoholpegel steigt, werden die ersten Leute lauter, und schon bald reden alle laut.

Auch Ruhe ist ansteckend

Hier im Park sind vor allem Frauen mit Kinderwagen unterwegs und Spaziergänger. In der Ruhe des Parks bleiben selbst die Handys in der Tasche. Alle schweigen oder senken die Stimme, wenn jemand entgegenkommt. Auch Ruhe ist ansteckend.

Michael Jäcker-Cüppers steckt das Messgerät ein. Er sagt, dass auch er sich solche Phasen der Ruhe viel zu selten nimmt. Er schaut sich um, er lächelt. Eigentlich wollte er zur S-Bahn. Doch nun läuft er weiter durch den Park und sagt: „Das gönne ich mir jetzt.“

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