Olaf Scholz kann von Glück sagen, dass er vom Volk nicht allzu ernst genommen wird – denn sonst wäre ihm sein aktueller Lapsus längst um die Ohren geflogen. Diese Eigenschaft hat er sich selbst hart erarbeitet, da er sich an entscheidende Vorgänge innerhalb seiner eigenen politischen Karriere nicht mehr erinnern kann.
Dass die Deutschen ihn trotzdem zum Kanzler gewählt haben, lag eher daran, dass seine Mitstreiter im Wahlkampf 2021 zur wirklich unpassendsten Gelegenheit gelacht beziehungsweise allzu marketingversessen gewirkt hatten, als daran, dass der damalige SPD-Kanzlerkandidat so überzeugend aufgetreten wäre oder ein so mitreißendes Wahlprogramm gehabt hätte.
Es lag auch daran, dass es Scholz damals am ehesten gelungen ist, überzeugend zu merkeln. Also den Eindruck zu hinterlassen, es würde sich nicht wirklich etwas ändern nach 16 Jahren Merkel’scher Kanzlerschaft, man könne weiterhin darauf vertrauen, dass Mutti – oder jetzt eben wieder ein Vati – das gewaltige Schiff BRD schon schaukeln würde.
Bekanntermaßen sind seitdem Krisen (Corona, Ukraine-Krieg, Klima) über die Welt gekommen, die mit jenen unter Merkels Kanzlerschaft (Banken- und Flüchtlingskrise, Griechenlandrettung und Fukushima) durchaus konkurrieren können, in noch kürzerer Zeit sogar. Man kann es dem aktuellen Kanzler also im Grunde nicht verübeln, wenn er seine Überforderung das eine oder andere Mal mit überheblichem Grinsen zu kaschieren versucht, anstatt die passenden Worte zu finden – wer wäre da nicht manchmal überfordert als oberster Verantwortungsträger?
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Dennoch hat das, was am Wochenende passiert ist, eine neue Qualität. Bei einem Auftritt auf dem Marienplatz in München sagte Olaf Scholz am Freitag wörtlich: „Es sind vielleicht gefallene Engel aus der Hölle, die einem Kriegstreiber das Wort reden.“ Er meinte damit offenbar die Friedensbewegung im aktuellen Ukraine-Konflikt. Und ganz egal, wie man zu diesem Krieg stehen mag: Eine solche Entgleisung gegenüber von ihm persönlich offenbar als unliebsam empfundener politischer Denkweise ist für einen öffentlichen Amtsträger nicht akzeptabel.
Denn dahinter stecken Menschen, die sich ihre politische Denke im Zweifel genauso gut überlegt haben wie Scholz selbst, der eine vielleicht schlechter, die andere besser, jeder nach seinen Möglichkeiten und Überzeugungen. Über sie in einem solchen nicht nur abfälligen, sondern geradezu entmenschlichenden Ton herzuziehen, das geziemt sich einfach nicht, und das weiß auch jeder. Erst recht, wenn man – neben dem Bundespräsidenten – der oberste Würdenträger eines Landes ist. Was ist mit seiner Vorbildfunktion? Frank-Walter Steinmeier, ebenfalls SPD, beklagte zu Recht eine Spaltung in der Gesellschaft, und der Bundeskanzler treibt sie von der Kanzel voran, oder wie hat man das zu verstehen?
Zumal Olaf Scholz diese Äußerung nicht im privaten Rahmen entfleucht ist, beim Wäscheaufhängen im Garten oder nach einem unschönen Telefonat in seinem Büro. Sondern ganz gezielt vor Publikum, bei einem öffentlichen Auftritt.
Man stelle sich vor, Angela Merkel hätte anno dazumal eine solche Aussage getätigt, oder auch Gerhard Schröder, oder gar ein Helmut Kohl? Der Aufschrei wäre groß gewesen. Denn Kohl zum Beispiel war – viel stärker noch als Scholz – zwar alles andere als respektvoll etwa im Umgang mit der Presse. Aber eine derart unsägliche öffentliche Publikumsbeschimpfung wäre ihm wohl nicht über die Lippen gekommen.
Und das ist der Unterschied: Auch ranghohe Politiker können im Wahlkampf hart austeilen, gegen den politischen Gegner, gegen von ihnen unerwünschte politische Maßnahmen, meinetwegen auch im Umgang mit der Presse. Journalisten dürfen ja immerhin auch hart – und öffentlich – urteilen.

Olaf Scholz im Bürgergespräch in der Stadthalle Gifhorn am 1. November 2022. Moritz Frankenberg/dpa
Aber das ist etwas anderes als eine solche Bürgerbeschimpfung, zu der Scholz leider zu neigen scheint. Schon des Öfteren ließ er es auf Marktplätzen oder auch zu anderen Gelegenheiten im Kontakt mit Bürgern bisweilen an Respekt vermissen. „Neulich kam jemand zu mir und sagte: Herr Scholz, ich habe meinen Elektro-Ofen gerade auf einen Gas-Ofen umgestellt“, prustete es aus dem Kanzler bei einem Bürgerdialog in Gifhorn heraus, als sei das ein guter Witz. Das war im November 2022, als die Strom- und Gaspreise in diesem Land in für viele unerreichbare Höhen schossen.
Das erinnert unweigerlich an die schon damals merkwürdigen Plakate, mit denen die SPD ihren Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl ein Jahr zuvor beworben hatte. Darauf war ein bis fast zur Unkenntlichkeit gephotoshopter Scholz zu sehen und das eine große Wort: Respekt. Heute darf man sich getrost fragen, ob das wirklich Scholz war, und falls ja, was oder wen er damit meinte. Seine Wähler offenbar nicht.
Denn die SPD ist als ur-linke Partei generell eher nicht so einzuordnen, dass sich darin besonders viele Kriegsbewegte fänden. Und man kann natürlich – sowohl als Politiker als auch als normaler Bürger – zu dem Schluss kommen, dass eine Kriegsbeteiligung oder auch nur Unterstützung einer Kriegspartei eine gute Sache ist. Man mag auch zu dem Schluss kommen, dass es die einzig gute Sache ist. Man kann aber eben auch zu anderen Schlüssen kommen, und diese Position muss in einer Demokratie weiterhin zulässig sein. Und zwar ohne dass man vom Kanzler dafür öffentlich derart zum Abschuss freigegeben und geradezu dämonisiert wird. Das gilt im Übrigen auch für jedes andere strittige Thema, soweit es nicht um verfassungsrechtliche Bedenken geht.
Man kann diese Worte auch nicht als irgendwie eigenwillige Art von Humor bezeichnen, denn Humor ist, wenn jemand lacht.
Dass sein Fauxpas nicht höhere Wellen schlägt, ist übrigens auch dem Umstand zu verdanken, dass er im Laufe des Wochenendes umgedeutet wurde zu einer Aussage des Kanzlers „gegen rechte Populisten“. Am Freitag war von Journalisten vor Ort noch von „Pazifisten mit Friedenstauben“ berichtet worden. Die Friedenstaube selbst bezeichnete Scholz als Symbol aus den 80er-Jahren.
Es ist daher eine Verrohung der Sitten, die der Kanzler hier öffentlich vorantreibt, und das geht so nicht. Jemand muss ihm Einhalt gebieten. Einer seiner Parteifreunde, der noch Einfluss auf ihn hat, sollte ihm sehr deutlich machen, dass sich Olaf Scholz mit solchen öffentlichen Beschimpfungen keine Freunde macht. Das Land ist eh schon gespalten und nach sehr aktuellen Umfragen ist eine größere Mehrheit im Lande mit diesem Kanzler nicht zufrieden.
Es mag sein, dass Scholz, deshalb mit dem Rücken an der Wand, glaubt, zu solch drastischen Äußerungen greifen zu müssen, um das Ruder herumzureißen. Um nicht mehr so teflonbeschichtet zu wirken, sondern lebhafter, energischer. Das wäre schon ungeschickt genug. Es könnte aber auch sein, dass Scholz glaubt, er könne einfach alles tun, solange er noch regiert, und diesen Zustand genießt. Dann wäre es umso mehr an der Zeit, dass ihn jemand eines Besseren belehrt, denn eine solche Machtdemonstration gegenüber dem eigenen Volk ist seiner Position absolut unangemessen. Zumal er kein Parteiführer ist, sondern Kanzler einer ganzen Nation – also auch derer, die er da auf Übelste beschimpft.
Üblicherweise werden solche öffentlichen Auftritte vorbereitet, man darf also davon ausgehen, dass er diese Worte nicht spontan gewählt hat. Sollte sie ihm jemand in den Mund gelegt oder aufgeschrieben haben, sollte dieser jemand zum nächstmöglichen Zeitpunkt entlassen werden. Weil er oder sie sich als ungeeignet erwiesen hat, einen Staatenlenker zu beraten. Und der Kanzler selbst sollte sich beim nächsten Mal gut überlegen, wen oder ob er noch mal jemanden öffentlich beschimpft.
Verrückte Zeiten, dass man sich mit so etwas überhaupt beschäftigen muss.
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