Iova Calderar entzündet ein Streichholz, pustet es aus, fackelt noch eines ab, wirft das verkohlte Hölzchen in ein Glas mit Wasser. Mit der schwarzen Kohle malt sie ein Kreuz auf Marias Stirn, auf ihre Beine, die Arme. Maria verzieht das Gesicht. Ihre Großmutter gießt das verkohlte Wasser über den struppigen Hütehund, der vor der Tür liegt und erschrocken aufspringt. Das Aschekreuz soll von Maria fernhalten, was Böse ist, soll sie schützen vor den Bedrohungen, die auf sie warten.
Maria Calderar ist das jüngste Mitglied einer Familie, die für die Familie lebt. Eine Vertreterin der Kalderasch. Es ist ihr traditionelles Handwerk, das ihnen ihren Namen verlieh. Lange lebten die calderar, Kesselschmiede, davon, riesige Schnapskessel zu bauen und zu flicken, Töpfe, Schüsseln, Werkzeug, Marmeladentöpfe, Kupferpfannen.
Die Vorfahren von Maria lebten in Zelten, zogen von Dorf zu Dorf in Transsilvanien, ehemals Ungarn, jetzt Rumänien. Ein Landstrich umrahmt von den Karpaten, von tiefen Wäldern und sanften Hügeln, überzogen von Mythen und Legenden.
Die Kalderasch sind die letzten Roma, die sesshaft wurden. Doch das ländliche Rumänien wandelt sich. Von der Landwirtschaft und ihrem traditionellen Handwerk allein kann die Familie längst nicht mehr leben. Die Bauern aus den umliegenden Dörfern wollen die handgemachten Kupfergegenstände nicht mehr kaufen, sie ziehen die industriellen Produkte aus den großen Geschäften vor.
Die Kalderasch waren Reisende, immer. Und sind es noch heute. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gehen sie nach Deutschland, England, Frankreich, um Altmetall zu sammeln, um Äpfel zu pflücken, in Recyclingfabriken Müll zu trennen. Sie zerteilen tote Schweine in den Fabriken von Fleischproduzenten. Sie betreuen pflegebedürftige deutsche Senioren. Sie schuften auf Baustellen. Wer sind die Menschen, die im Amazon-Lager Pakete packen und auf den Feldern Erdbeeren pflücken oder Spargel stechen? Menschen wie die Familie Calderar.
Sie leben in einer Welt, die sich schnell wandelt. Und doch folgen sie weiterhin Traditionen, die Hunderte Jahre alt sind. Es ist ein Leben zwischen den starren Ritualen, Regeln und Hierarchien auf der einen Seite und Offenheit, Lebenslust und Stillstand auf der anderen. Zwischen Instagram und Plumpsklo.
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Die Roma-Familie verdient ihren Lebensunterhalt in Deutschland
Es ist ein Tag vor Maria Calderars großem Festtag. An diesem Wochenende wird sie getauft, acht Monate nach ihrer Geburt.
Ein Festtag bei der Familie Calderar bedeutet mehrere Tage Vorbereitung. Die Frauen kneten Teig in Holztrögen, groß wie eine Badewanne, backen Brote im Holzofen und Blechkuchen, einen nach dem anderen. Sie schneiden Berge an Wurst und bereiten frischen Schafskäse zu, butterweich und leicht salzig. Familienmitglieder reisen an, aus Sibiu – Hermannstadt –, 60 Kilometer entfernt. Gastfreundschaft, das heißt für die Calderars: üppig beladene Teller, geschnittenes Brot und eingelegte Salzgurken – und darauf einen Schnaps. „Norok!“
Marias Großvater Emil Calderar, 37 Jahre alt, trägt einen breiten Schnauzer, das schwarze Haar hängt ihm in die Stirn. Er spannt die Pferde vor die Kutsche, zwei stattliche Tiere. Mit seinem Sohn, Marias Vater, fährt er durch das Dorf. Er schnalzt mit der Zunge, um die Pferde anzutreiben. Gleichförmig traben sie über die Straße durch Merghindeal im Kreis Sibiu, in Siebenbürgen. 300 Häuser stehen dort, einige verfallen, einige leer stehend. Viele Einwohner sind ausgewandert, gestorben. Es gibt einen winzigen Lebensmittelladen, vor dem an Plastiktischen Männer ihr Feierabendbier trinken.

Kleine Besucher des Festes nach der TaufeSascha Montag/Zeitenspiegel
Über die Straße durch den Ortskern zuckeln Pferdekutschen beladen mit Heu, dann wieder brettern Lastwagen am Haus der Familie vorbei. Die Kirchenburg im Ortskern stammt aus dem 13. Jahrhundert, eines der Wahrzeichen, für das die Bewohner den Ort rühmen. Es ist der Mittelpunkt von Rumänien, verkündet das Ortsschild.
Die Calderar sind eine große, eine unübersichtliche Familie. Wenn der Familienstammbaum von dem Baby Maria in Richtung Wurzel aufgezeichnet wird, gibt es so viele Verästelungen, dass sich die Angehörigen selbst darin verlieren. Fest steht aber: Wenn Maria die oberste Spitze der Krone bildet, dann ist ihr Ururgroßvater Nicolae der tiefste Punkt der Wurzel. 90 Jahre trennen die beiden.
Nicolae Calderar lebt schräg gegenüber von Maria und ihrer Familie. Er sitzt auf seinen Stock gestützt auf einem Sessel vor seinem Haus, den schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen. Seine Augen sind ein wenig trüb geworden, die Statur hager.
Er sei mit den Jahren geschrumpft, sagt er. Als kleiner Junge schlief er im Zelt. Er half seinen Eltern, lernte von seinem Vater, Kessel zu schmieden. Es war eine entbehrungsreiche Kindheit mit Arbeit und doch geborgen, bis das kam, was die Roma „Porajmos“ nennen, das „große Verschlingen“, unter anderem in dem eigens eingerichteten „Zigeunerlager“ in Auschwitz. Nicolae Calderar ist einer der letzten lebenden Zeitzeugen.
Je nach wissenschaftlichen Schätzungen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 30.000 und 500.000 Roma ermordet. Es dauerte mehr als 70 Jahre, bis die Verfolgung der Roma in Rumänien insbesondere während des Zweiten Weltkriegs in die Geschichtsschulbücher aufgenommen wurde. Das erste rumänische Mahnmal, das dem Schicksal der Roma-Opfer des Holocausts gewidmet ist, wurde 2015 im Museum für Roma-Kultur in Bukarest eingeweiht.
„Zigeunerlager“ in Auschwitz: Nicolae Calderar ist eine der letzten Zeitzeugen
Nicolae Calderar kennt die Arbeitslager, weiß um all die Verstorbenen und Geschundenen. Er denkt immer wieder an seine Flucht zurück, auch daran, wie er später allein seine Kinder aufzog, nachdem seine Frau früh gestorben war. Als er die Nachrichten über den Kriegsausbruch in der Ukraine sah, weinte Nicolae Calderar. Weil er dasselbe erlebte, vertrieben wurde. Weil er entsetzlichen Hunger kennt und Todesangst. Aber wenn er seine Ururenkelin Maria auf dem Schoß hält, ihr in die Wangen kneift, sie an den kleinen Händen hält, blitzen seine Augen vor Freude.
Die Kutsche mit den unbändigen Pferden biegt ab, rollt über grüne Hügel, hält an der Schafwiese. Hunde treiben die Tiere zusammen. Emil Nicolae Calderar, benannt nach seinem Vater und dem Urgroßvater, trägt ein blaues Shirt und ein Basecap. Er ist ein groß geratener Sechzehnjähriger, mit kindlichem Gesicht und Flaum über den Lippen, der sich am liebsten mit seinem Smartphone beschäftigt. Er, der Vater von Maria, fängt nun ein Schaf, ein Lamm Gottes zu Ehren des Kindes.
Die Tiere fliehen, schrecken vor ihm zurück. Als er eines zu fassen bekommt, klemmt er es zwischen die Knie, schnürt die Beine des Schafs zusammen. Emil und sein Vater wuchten das Tier gemeinsam auf die Kutsche. Sie fahren vorbei an den Pferdeweiden, auf einer großen Koppel grasen die Tiere. Die Familie verkauft sie auf dem Markt. Doch viel Geld bringt das nicht.
Zwanzig Millionen Menschen leben in Rumänien, eine halbe Million davon sind Roma. Am Straßenrand fallen sie oft auf mit ihren breitkrempigen Hüten, viele der Frauen tragen lange, bunt gemusterte Röcke und Kopftücher.
Roma: Das Leben wird von Krankheit und Armut geprägt
Von Armut und Krankheit geprägte Lebensgeschichten sind für viele Roma in Rumänien bittere Realität. Bis heute liegt ihre Lebenserwartung bis zu zehn Jahre unter dem europäischen Durchschnitt – die Folge von fehlender Bildung und ungesunden Lebensbedingungen.
Es sind viele Vorurteile, denen die Roma begegnen. Das hat dazu geführt, dass sie sich absondern. Dass sie sich absondern, führt dazu, dass die Vorurteile stärker werden. Dabei kommen sie viel herum, bereisen ganz Europa auf der Suche nach Arbeit. „Wir brauchen kein Navi, wir finden jeden Weg“, sagen die Männer der Familie und tippen sich an den Kopf. „Alles hier abgespeichert!“
Wenn andere in den Urlaub verreisen, machen sie ihre Trips gemeinsam als Familie, um Geld zu verdienen. Uca Calderar, Marias Mutter, zögert nicht lange, wenn sie von ihrer Zukunft spricht. „Ich möchte später auch ins Ausland reisen, um mit den anderen arbeiten zu gehen.“
Zerbrechlich sieht Uca aus, die zierliche junge Frau, 20 Jahre alt, mit Augen wie Saphiren. Noch ist ihre Maria zu klein, um sie allein zu lassen. Doch immer wieder lassen die Mütter ihre Kinder bei der Familie zu Hause, bei den Groß- und Urgroßmüttern, die für sie sorgen. Oft monatelang sind sie getrennt von ihren Söhnen und Töchtern. Nach vier Monaten bringen sie dann bis zu 5000 Euro zurück. Moderne Nomaden auf einem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt.
In den Häusern der Kalderasch in Merghindeal ist jedes Zimmer eine gute Stube. Bunte Fliesen, knallgrün und rot gestrichene Wände, goldene Figürchen zieren die Schränke im Wohnzimmer. In den Regalen reihen sich goldene und silberne Becher, verziertes Geschirr. Der Kleiderschrank der kleinen Maria hängt voll mit bonbonrosafarbenen Kleidern, wie für eine kleine Prinzessin. Da stehen winzige pinke Turnschuhe neben glitzernden Ballerinas. An den Bügeln hängt auch traditionelle Kleidung im Miniformat, steife Spitzenblusen mit Kragen und Seidenkleider mit Rosen.

Gleich wird getauft: Maria wird von ihrer Patin Iuliana getragen, während der Priester Glaubensbekenntnisse rezitiert.Sascha Montag/Zeitenspiegel
Der Tag der Taufe ist gekommen. Dröhnende Musik schallt aus den Boxen und bringt den Innenhof zum Beben. An der Zapfanlage schenkt Marias Großvater Emil Bier aus, lange tropft nur dicker Schaum aus dem Hahn. Uca Calderar wiegt Maria in den Armen. Uca sieht müde aus. Maria wirkt unruhig, weinerlich.
Während im Haus alle Frauen emsig wischen und putzen, das Geschirr heraustragen, das Büfett richten, blökt draußen das Schaf. Es liegt auf dem Kutschanhänger, müde zucken die zusammengebundenen Beine. Ein Onkel von Maria hat eine Zigarette zwischen den Lippen und ein Messer in der Hand. Er trägt ein blütenweißes Hemd, zwischen den Beinen geklemmt ein Schaf, bebend vor Angst. Es schäumt, gurgelt, zuckt nochmals mit den Hinterbeinen, strampelt. Ein letzter Atemzug. Das Lamm Gottes soll das Böse fernhalten von Maria, soll sie schützen.
Durch das Tor strömen immer mehr Besucher, Jungs mit breitkrempigen Hüten, kleine Mädchen in Röcken, alle traditionell gekleidet. Das Bier sprudelt mittlerweile aus dem Zapfhahn. Auf dem Grill brutzeln Schweinefleisch und das Schaf. Die Tische biegen sich unter Platten von Fleisch und Wurst, Salat, Käse, Brotlaibe so groß wie das Baby.
Die Roma wollen beides, Familienzusammenhalt und Offenheit
Emil und Uca Calderar haben vor ihrer Hochzeit nicht viel miteinander gesprochen. Ihre Ehe haben ihre Eltern miteinander vereinbart, als Emil und Uca noch kleine Kinder waren. Ausgehen, andere treffen, erste Dates gab es nicht. Auch während der Feier zur Taufe sprechen sie nicht viel miteinander. Kein Händchenhalten, keine Küsse.
Uca Calderar besuchte die Schule, bis sie 13 Jahre alt war. In der Familie sagen sie: „Die Schule des Lebens ist es, worauf es ankommt.“ Für Uca Calderar selbst sind die Prinzipien so unumstößlich, dass sie sie nicht infrage stellt. Wenn man sie fragt, lächelt sie zaghaft, senkt den Blick.
Wenn Emil Calderar das Baby Maria im Arm hält, nur für einen Moment, wirkt es wie ein Fremdkörper. Wie er es erlebe, so früh Vater geworden zu sein? Er zuckt mit den Schultern. Für ihn ist das „normal“, kein Grund, sich Gedanken zu machen.
Die Familie Calderar weist Diskriminierungen weit von sich. Im Alltag gibt es viele Berührungspunkte mit der Mehrheitsgesellschaft – von der Arbeit über Freundschaften bis hin zu verwandtschaftlichen Verhältnissen. Unter die Taufgäste mischen sich Freunde, die keine Roma sind: Sie stechen heraus, die Frauen tragen kurze Paillettenkleider, Schuhe mit zentimeterhohen Absätzen, machen Selfies, als sie in lange Röcke der Calderar-Frauen gesteckt werden und Tücher um ihr Haar binden.
„Wir haben nur eine Chance zu überleben, mit unserer Kultur, unserer Eigenständigkeit in Sprache und Brauchtum, wenn wir uns öffnen, Einblick geben in unsere Vorstellung vom Leben“, sagt Emil. Sie wollen nicht geheimnisvoll und mysteriös ihren Alltag leben, abgetrennt von anderen. Es ist ein Ausbalancieren und Austarieren: Tradition und Moderne, Familienzusammenhalt und Offenheit.
Die lange Geschichte der Ausgrenzungen hat sie besonders eng zusammenwachsen lassen. Und genau das hat immer wieder bei vielen Roma-Familien zu einer immer stärkeren Abgrenzung nach außen geführt.

Stolz im Zuhause mit den bunten Wänden: Täufling Maria mit FamilieSascha Montag/Zeitenspiegel
An diesem Sonntag wirkt das alles fern. Es ist der Tag der Taufe, der Tag des großen Festes. Einige fahren mit dem Auto zur Kirche, einige laufen. Die meisten bleiben im Hof sitzen, auch Marias Großeltern. Nur die Mutter Uca kommt mit, die Patenfamilie, eine Handvoll weiterer Gäste. Der Zug, der die kleine Heidin zur Kirche begleitet, nähert sich dem Gotteshaus.
Maria schläft im Arm ihrer Patin Iuliana, während der Priester Glaubensbekenntnisse rezitiert. Uca steht ein wenig abseits, nestelt nervös an ihrem Rock. Als die Kleine später untergetaucht wird, nackt und rosig, brüllt sie wie am Spieß. In der orthodoxen Tradition umfasst die Taufe das dreimalige vollständige Untertauchen oder Eintauchen in ein mit geweihtem Wasser gefülltes Taufbecken. Minutenlang ist die kleine Maria danach kaum zu beruhigen. Sie wird mit geweihtem Öl gesalbt.
Zurück auf dem Hof, am Haus der Familie Calderar, wo die Feier bereits in vollem Gange ist. Musik läuft, ein Gefiedel, ein Rhythmus. Der ganze Innenhof vibriert im wummernden Takt. Nun gehen die Frauen in der Menge unter, ein Meer aus bunten, schwingenden Röcken, die Männer tragen ihre schwarzen Hüte tief ins Gesicht gezogen.
Eine Haarsträhne wurde Maria in der Kirche abgeschnitten, ein Zeichen dafür, dass ihr Schicksal Gott anvertraut wird. An ihrem ersten Geburtstag, so der Brauch, schneiden ihre Familienmitglieder wieder ein Strähnchen ab. Danach wird ihr Haar wachsen zu Zöpfen bis zu den Oberschenkeln, bis sie verheiratet wird. Wie ihre Mutter, wie ihre Großmutter, wie all die Frauen in der Ahnenreihe vor ihr. Wenn es nach ihrer Familie geht, ist ihr Weg klar vorgezeichnet. Ihre Eltern und Großeltern werden für sie entscheiden, wen sie heiratet.
Doch wer weiß schon, ob Maria darauf noch Lust haben wird, wenn sie so alt ist wie ihre Mutter heute. Vielleicht wird sie sich einmal dagegen auflehnen, vielleicht kommt alles ganz anders, als ihre Familie heute glaubt. Die Kalderasch hängen an ihren Traditionen, an ihren starken Familienbanden. Und doch wissen sie, dass sich vieles wandelt.
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