Ich werfe mit einem Hundertfüßer nach meinem Vater, der viel zu hektisch aus dem Weg springt und dabei in einem hohen Ton kreischt. Kurz denke ich, mein Vater knickt um und fällt in den Hotelbrunnen.
Unbeirrt kringelt der Hundertfüßer weiter und wird später in dieser Nacht, vermutlich von einem Frosch, gegessen werden. Meine Mutter kauft sich einen Überwurf, um sich vor der Sonne zu schützen. Die Regenbogenflagge als Poncho, kurz glaubt sie, es handle sich hierbei um traditionelle Farben des Landes. Ich flüstere meinem Bruder zu: „Kann sie ja auf dem nächsten CSD tragen“, der Bruder kichert, das Baby auf seinem Arm.
Jenes Baby, das als zweiten Namen den Namen meiner geliebten Großmutter trägt, die ja jetzt, hier, nun auch dabei ist. Als zweiter Name, nicht als Person.
Ich habe dem Baby heute seinen ersten Einsiedlerkrebs gezeigt und meine Schwägerin ruft: „Thilo darf nicht so viel Zeit mit dem Kind verbringen, sonst mag es später noch Käfer und schleppt die ganze Zeit Tiere mit nach Hause.“
Es ist Sommerurlaub, und meine Familie verbringt ihn gemeinsam. Das letzte Mal sind wir als Familie in den Urlaub gefahren, als meine geliebte Großmutter gestorben ist. Wir haben ihr kleines Erbe verscherbelt, gemeinsam, hier an diesem Ort, und dieser Ort hat uns glücklich gemacht, hat den Schmerz der ewigen Abwesenheit einer Person für einen kurzen Moment erträglich gemacht. Zwischen Pool, dem Geschmack von Salz im Mund und süßen Brausen. Exotische Eissorten und Süßigkeiten mit unaussprechlichen Namen. Mein Vater, der aus einem Zimmerspringbrunnen trinkt, weil er dachte: „Das macht man hier doch so!“ Ein Zimmerspringbrunnen, in dem Entenschnodder und kleine Guppys schwammen.
Der Sommerurlaub, denke ich, hat einen wesentlichen Einfluss auf das, was wir sind, wie wir werden und: Wie wir uns erinnern.
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In den letzten Jahren habe ich den Sommerurlaub vernachlässigt, das war ein großer Fehler. Ich spüre das jetzt, hier im Urlaub mit allen Menschen, die mir wichtiger nicht sein könnten. Ich wollte arbeiten, und weil meine Arbeit Reisen beinhaltet, dachte ich immer: Ich bin ja im Urlaub. Trotzdem wurden die Haare grau, die Falten tiefer. Urlaub sollte nicht so erschöpfen wie die letzten Jahre.
Ich erinnere mich jetzt, hier, an die ersten Sommerurlaube meines Lebens, in Himmelpfort, in einer Anlage, in der DDR-Kulturschaffende Urlaub machten. Ich erinnere mich an meinen Vater, der einen seltsamen Fisch fing. Und an meine Oma, die sich diesen Fisch getraut hat zu essen. Ich erinnere mich an Wanderungen durch die Sächsische Schweiz, mit meinem Bruder. Das verbotene Klettern im Naturschutzgebiet. Und tschechische Oblaten. Ich erinnere mich an die Reisen mit den Eltern nach Portugal, an Horrorfilme und erste Verliebtheiten über die Poolliege hinweg. Die Erinnerungen an die Sommerurlaube sind die wärmsten.
Aber jetzt bin ich kein Kind mehr, ich bin in der Mitte meiner möglichen Erfahrungen angelangt. Meine Eltern bewegen sich selbstbewusst und cool ans im Nebel liegende Ende heran, und mit diesem kleinen, neuen Lebewesen ist ein Anfang geschaffen. Acht Milliarden Anfänge auf dieser Welt.
Es erlebt seinen ersten Sommerurlaub, an den es sich nicht erinnern wird, es erlebt mich, meinen Bruder, seine Mutter, meine Eltern. Es lächelt, ich werfe Eiswürfel nach einem sieben Monate alten Kind, ich setze den Hundertfüßer auf den kleinen Ärmchen ab, und das kleine Kind, ganz im Gegensatz zu meinem Vater, kreischt nicht. Es blickt konzentriert und freundlich auf den verunsicherten Wurm, der nicht weiß wohin.
G. wird sich nicht erinnern, aber ich. Wir schaffen in diesen Urlauben Erinnerungen an uns, an die anderen. Und jeder Sommerurlaub ist mehr und mehr aufgeladen mit der Vergangenheit und mit dem Erlebten. Was kommt dieses Jahr hinzu, frage ich mich, fragt sich mein Bruder. Wie viele Sommerurlaube kommen noch, fragen sich die Eltern, ihre Blicke traurig, aber voller Verständnis.
„So ist es nun mal“, die brutale Logik unser aller Leben, bewusst gemacht am Strand zwischen dem fünften Cappuccino und der zwölften Cola Zero.
Ich hätte nie gedacht, dass diese Reisen einen so großen Einfluss auf das eigene Leben haben können. Aber wer den Sommerurlaub vernachlässigt, vernachlässigt auch das Schaffen von Erinnerungen. Und das Leben ist nun mal die Summe aller Dinge, an die wir uns richtig und falsch erinnern.
Wir verfälschen, machen manche Reisen schöner, machen sie harmonischer, machen sie vielleicht auch weniger teuer und weniger durchfallig. Wir machen sie uns schön.
Vielleicht sollten wir den Sommerurlaub viel mehr anerkennen für das, was er in unser aller Leben leistet. Er ist eben keine Pause in der Mitte des Jahres, er ist vielmehr Quell eines Gefühls, das uns ins nächste Jahr trägt. In den nächsten Sommer, der uns wieder mit neuen Erinnerungen und neuen Aussichten versorgt. Nicht nur mit genug Vitamin D und drei Kilo mehr auf der Waage.
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