Warum Langeweile so nützlich ist – die besten Momente für Geistesblitze

Konferenzen dieser Art zählen nicht eben zu den beliebtesten. Da sitzt man, virtuell oder leibhaftig, seit einer gefühlten Ewigkeit mit Kolleginnen und Kollegen zusammen. Brainstorming ist angesagt. Der Imperativ „Seid kreativ!“ steht im Raum. Zündende Ideen verzweifelt gesucht. Die Spannung steigt. Und manchmal klappt es dann auch. Bevor sie unerträglich wird, entlädt sie sich, löst Geistesblitze aus.

Oft klappt es aber auch nicht. Zu den Eigenheiten von Geistesblitzen zählt nun einmal, dass sie sich mit Vorliebe einstellen, wenn sie nicht herbeizitiert werden, wenn man nicht im Geringsten mit ihnen rechnet.

Wer kennt das nicht? Aus heiterem Himmel durchzuckt uns ein aufregend neuer Gedanke. Das Gehirn stand nicht unter Druck, schöpferische Kräfte freizusetzen, im Gegenteil. Es war auf den Stand-by-Modus heruntergefahren. Automatismen steuerten das Verhalten. Man tat, was man hunderttausendmal getan hat. Man duschte, brühte Tee auf, goss Blumen, joggte. Oder man tat nicht einmal das, saß tagträumend auf dem Sofa, begann sich zu langweilen.

Durch neuen Input kaum gefordert, hat sich das Gehirn ans Vorhandene gehalten, unbewusst Aufgeschnapptes, scheinbar Vergessenes eingearbeitet und spielerisch neue Verknüpfungen erstellt. Es konnte nicht anders. Nichts tun geht nicht. Oder wie es in einem Beitrag des Wissenschaftsmagazins Spektrum heißt: „Entweder es assoziiert – oder es ist tot.“

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Das Gehirn kann man trainieren wie einen Muskel

Christian Montag, Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm, vergleicht das Gehirn mit einem Muskel, den man trainieren und zu erstaunlich vielen Verwendungen heranziehen kann. Im Bild bleibend, lässt sich auch sagen: Ein verspannter Muskel befähigt nicht zum großen Gedankensprung. Ein entspannter schon eher. Wo Langeweile aufkommt, ist Kurzweil nicht weit. Oder wie es der Philosoph Friedrich Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ formuliert: „Geduld und lange Weile sind jene unangenehmen Windstillen der Seele, welche der glücklichen Fahrt und lustigen Winden vorangehen.“

Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Rede ist hier nicht von jener Langeweile, die John Eastwood, Professor für klinische Psychologie an der Universität York, als unangenehmes Gefühl bei der Verrichtung einer unbefriedigenden Tätigkeit und Sehnsucht nach einer befriedigenden beschreibt. Wer einer langweiligen Schulstunde nicht entfliehen kann, an der Supermarktkasse monotone Arbeit verrichten muss, um seine Existenz zu sichern, mag in dumpfe Teilnahmslosigkeit versinken. Zu kreativen Höhenflügen wird er sich nicht aufschwingen.

Segensreich wirkt Langeweile, die mit Akzeptanz einhergeht: ein Leerlauf, der nicht als Leere empfunden wird, sondern als Freiraum von noch unbekanntem Nutzen. Sei es, dass die von der Leine gelassenen Gedanken ausschwärmen und sich wundersam neu formieren. Sei es, dass der Mensch über solch zielloses Verweilen in der Gegenwart sogar das „Wesentliche des Daseins“ erspüren kann.

Der Existenzphilosoph Martin Heidegger war dieser Ansicht. Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte Nietzsche der Langeweile ähnlich existenzielle Bedeutung zugesprochen. Er empfahl, sie auszuhalten, um auf dem Weg der Selbsterkenntnis voranzukommen: „Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selbst.“

Aus gutem Grund suchen Künstlerinnen und Künstler die Abgeschiedenheit eines Ateliers, eines Dachzimmers oder eines Gartenhauses: Orte, an denen man sich selbst begegnen, mit innerem Reichtum wuchern kann. Wenn die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren ein außergewöhnliches Werk hinterlassen hat, dann auch deshalb, weil sie sich Zeiten des Leerlaufs ausbedungen hat. „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen“, hat sie in einem ihrer Tagebücher vermerkt.

An Gelegenheiten, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen, fehlt es heutzutage nicht. Die Arbeitswelt ist im Wandel. Fachkräftemangel und Homeoffice-Kultur haben zumal in Kopfarbeit und Kreativität verlangenden Berufen die Gewichte zugunsten der Beschäftigten verschoben. Die Work-Life-Balance justiert sich neu. Weniger Work, mehr Life soll es sein, sprich: mehr frei verfügbare Zeit und damit auch mehr Gelegenheiten, auszukuppeln, Leerlauf zuzulassen, nichts zu tun. Was allerdings nicht heißt, dass davon auch rege Gebrauch gemacht würde.

Die Neigung, sich vom Informationsfluss mitreißen zu lassen

Oft ist das Gegenteil der Fall. Die Schleusen von Smartphone, Tablet und Computer stehen weit offen. Über die von alten Arbeitszeitvorgaben und Anwesenheitspflichten Befreiten ergießen sich Fluten neuer Informationen, die oft schon im nächsten Augenblick überholt sind: hier die „Tagesschau“ in 100 Sekunden, dort ein Tweet in 180 Zeichen, da ein Drei-Minuten-TikTok. Hatten leitende Angestellte 1970 noch jährlich rund 1000 Informationen zu verarbeiten, sind es heute um die 30.000. Das Gehirn, das nicht anders kann, als auf neue Reize zu reagieren, verfällt in Dauerstress. Langeweile hat in diesem Umfeld, in dem Neues ständig durch noch Neueres ersetzt wird, keine Chance.

Die Neigung, sich vom überbordenden Informationsfluss mitreißen zu lassen, anstatt ihn einzudämmen, sich zeitweise zu entziehen, kommt nicht von ungefähr. Gewandelt hat sich die Arbeitswelt nämlich auch insofern, als „Kommunikation sofort passieren muss“, wie es Peter Vorderer formuliert, Professor für Medienpsychologie an der Universität Mannheim. Einst sei es in Ordnung gewesen, eine Mail nach ein paar Tagen zu beantworten. Wenn man das heute tue, ploppe auf einem anderen Kanal die Frage auf, ob die Botschaft denn nicht eingetroffen sei.

Hinzu kommt die Angst zumal junger Menschen, offline Wichtiges zu verpassen, abgehängt zu werden, zurückzubleiben. Die Betreiber von Instagram oder Snapchat machen sich das zunutze. Indem sie die Möglichkeit bieten, Fotos oder Videos zu posten, die sich nach kurzer Zeit von selbst löschen, schüren sie diese Fear of missing out (Fomo) noch. „Wenn du nicht dranbleibst, es nicht gleich anschaust, hast du es definitiv verpasst“, lautet die Botschaft.

Cal Newport, Informatikprofessor an der Universität Georgetown, hat herausgefunden, dass sich die weitgehend von festen Arbeitszeiten und dem Erscheinen im Büro Befreiten der wachsenden Informationsflut nicht nur aussetzen, sondern sie mit inflationär versandten Mails und Posts noch gehörig anschwellen lassen. Newport führt die Verschickungswut auf die Sorge von Arbeitsnomaden zurück, mangels physischer Präsenz nicht wahrgenommen zu werden. Eine Bankmanagerin, die ihren Namen nicht nennen mag, bestätigt das. Das Versandte, sagt sie, erschöpfe sich oft in der Botschaft: Hallo, guckt her, ich bin da und tu was.

Die Freiheit, von jedem Ort aus arbeiten und kommunizieren zu können, hat laut Newport denn auch nicht den erhofften Produktivitätsschub ausgelöst. Wo früher zwei Anrufe genügt hätten, um ein Resultat zu erzielen, etwa eine Entscheidung herbeizuführen, würden heute zahllose Zwischenstände hin und her gemeldet.

Außerhalb der Arbeitswelt sieht es nicht viel besser aus. Leerlauf ist rar. Der „Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet“, wie der Philosoph Walter Benjamin die Langeweile charakterisiert hat, wird verjagt, bevor er sich dem Nest auch nur nähern kann.

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Smalltalk guttut

Freizeit ist längst nicht immer wirklich freie Zeit. In einem eng getakteten Tagesablauf mag selbst ein Yoga-Kurs, der Achtsamkeit und Entschleunigung verheißt, zu einem zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu absolvierenden Programm verkommen. Und was den Urlaub angeht, der zum Nichtstun verführen könnte, so tut die Tourismusindustrie alles, damit es dazu nicht kommt. Ob Fitnesstraining, Fortbildungsveranstaltungen oder schlichte Bespaßung: Was immer der Langeweile den Garaus zu machen verspricht, wird geboten.

Selbst das zwanglose Gespräch mit Unbekannten, denen wir im Alltag begegnen, droht auf der Strecke zu bleiben. Wie das von Astrid Lindgren geschätzte Dasitzen und vor sich Hinschauen ist es frei von Zielstrebigkeit und potenziell langweilig. So mancher Plausch über Belangloses nimmt freilich schon bald eine unerwartete Wendung. Dann nämlich, wenn sich zeigt, dass die Sprechenden einander nicht nur nicht kennen, sondern auch in unterschiedlichen Vorstellungswelten unterwegs sind. In der Überschneidung tun sich neue Perspektiven auf. Was langweilig begann, wird interessant. Eh man sich versieht, findet man sich auf gedanklichem Neuland wieder.

Doch wer spricht Unbekannte noch an? Digitale Dauerbeschallung hat den Smalltalk weitgehend verdrängt. Ob in Bus oder Straßenbahn, in der Warteschlange vor der Supermarktkasse oder im Wartezimmer des Arztes: Schweigen macht sich breit. Wer es bricht, gilt als Störer einer aufs Digitale konzentrierten, womöglich auch noch mit Kopfhörern abgeschotteten Gemeinschaft.

Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass Smalltalk guttut. Studien der University of Chicago und der University of California belegen: Wer etwa in Bus, Bahn oder Taxi mit Unbekannten ins Gespräch kommt, genießt die Fahrt mehr als jene, die schweigend unterwegs sind. Wobei die Schweigsamen durchaus ahnen, dass unverbindliches Geplänkel guttun, Auftakt zu einem anregenden Gespräch sein kann. Wenn sie sich nicht darauf einlassen, dann meist aus Sorge, an Andersdenkende zu geraten, mit denen der Austausch anstrengend werden, Konflikte heraufbeschwören könnte. Wer in der eigenen digitalen Blase verharrt, bleibt davor bewahrt.

Das Unbehagen, dass das Versiegen des Smalltalks auslöst, hat ein französisches Unternehmen zu einer Geschäftsidee inspiriert. Die Mitfahrgelegenheiten vermittelnde Plattform Blablacar verheißt der Kundschaft neben der Fahrt zum vorgesehenen Ziel unvorhersehbares Blabla.

Das bedeutet nicht, dass auf den vermittelten Autofahrten nicht auch Stille einkehrte, sich Langeweile breitmachte. Laut einer von dem Unternehmen veröffentlichten Studie schlägt sie aber früher oder spätere in Kurzweil um, setzt neue, wenn nicht gar disruptive Gedanken frei. 51 Prozent der Mitreisenden versichern, sie hätten auf der Fahrt „ihre Meinung zu etwas geändert“.

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