Wenn „ein Ausflug nach Mitte so reizvoll wie ein Pärchen-Samstag bei Ikea ist“

Berlin hat rund 3,8 Millionen Einwohner, und jeder hat seinen eigenen Blick auf die Stadt. Was macht Berlin aus, wieso lebt man hier – und tut man es überhaupt gern?

In unserer Rubrik „Fragebogen Berlin“ fragen wir bekannte Hauptstädterinnen und Hauptstädter nach ihren Lieblingsorten und nach Plätzen, die sie lieber meiden. Sie verraten, wo sie gern essen, einkaufen oder spazieren gehen. Aber auch, was sie an Berlin nervt und was man hier auf keinen Fall tun sollte.

Diesmal hat die Schriftstellerin, Kinderbuchautorin und Moderatorin Nina George unsere Fragen beantwortet, die mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jens J. Kramer, in Schöneberg lebt. Die 49-Jährige zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autorinnen im Ausland, ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet.

Schon seit 30 Jahren schreibt die gebürtige Bielefelderin Romane, Essays, Reportagen, Kurzgeschichten und Kolumnen. Einen Teil des Jahres verbringen sie und ihr Mann inzwischen in der Bretagne, wo man ja sprichwörtlich essen kann wie Gott in Frankreich. Aber auch zu Hause in Berlin findet George immer wieder tolle Zutaten auf Wochenmärkten und in Markthallen, wie sie uns im Fragebogen verrät.

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1.           Frau George, seit wann sind Sie schon in der Stadt?

Gefühlt seit der lausigen Pubertät in den 80er-Jahren, faktisch seit September 2015. Als Teenager war ich noch in einem winzigen niedersächsischen Bäderstädtchen gefangen, mit sozialer Kontrolle und der Farbe „Beige“ hinter den Rollatoren in den schön ordentlichen Parks – als wir mitten im Jahr eine neue Schülerin aus Berlin bekamen: Icke. Icke hieß natürlich anders und rächte sich auf ihre Weise für die Verschleppung durch ihre Eltern von Berlin nach Bad Pyrmont, indem sie die halbe Klasse mit Sehnsucht nach dem fernen, damals schier unerreichbaren Berlin ansteckte.
Was fanden wir sie alle cool, Icke war der Inbegriff von Selbstautorität und Renitenz.

Und wenn man jung ist, dann setzen sich die romantischen Illusionen in einem für immer fest, und selbst der Unfall mit der Realität kann da nicht helfen: Berlin wurde für mich, wenn es solche famosen Mädchen hervorbrachte, gleichbedeutend mit Widerstand, Punk, Kunst, Freiheit, es war das Symbol für „Icke bin Icke, und wenn’s dir nicht passt, geh weiter.“ Auch, als ich die Stadt meiner Illusion mit der Wirklichkeit in Besuchen ab 1990, direkt nach dem Mauerfall, und fast jedes Jahr bis zum Umzug verglich (und natürlich scheiterte), blieb die 14-jährige Nina weiterhin getriggert.
Und so zogen mein Mann und ich 2015, nachdem wir schon neun Jahre verheiratet waren, aber nie zusammengelebt hatten, nach Berlin. Auch, um der Politik ein wenig näher zu sein, da ich 2012 das Feld der Autorenrechte für mich entdeckte und eh ständig zwischen Hamburg und Berlin pendelte, um irgendwo rund um den Bundestag vorzusprechen und geduldig zu erklären, warum auch Buchautor:innen eine vergütungspflichtige Arbeit tun.

2.           Welcher ist Ihr Lieblingsort in Berlin?

Neben dem Balkon mit Blick auf einen zotteligen Baum, der von Sperlingen mit Biolärm bewohnt ist: so ziemlich jede Buchhandlung, wie etwa die Akazienbuchhandlung. Dussmann erschlägt mich dagegen jedes Mal, ich vergesse, was ich wollte, wo ich herkomme und warum man überhaupt Bücher schreiben sollte, es gibt offensichtlich schon genug davon … Und der Monbijoupark, wenn dort Tango getanzt wird, und all die anderen Milonga-Orte der Stadt. Berlin ist immer noch das zweite Buenos Aires, zumindest bei Nacht.

3.           Wo zieht es Sie hin, wenn Sie entspannen wollen?

Ins Bett oder unter die Dusche. Pardon, nix gegen Berlin, es liegt an mir: Entspannung macht mich nervös.

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Julia Baier

Zur Person

Nina Georges Werke wurden in 37 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit mehr als zwei Millionen Mal. Ihr Roman „Das Lavendelzimmer“ stand auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Der direkte Nachfolger, „Das Bücherschiff des Monsieur Perdu“, erschien genau zehn Jahre später im Mai 2023 und erzählt erneut von der Alchemie der Bücher.

Mit ihrem Ehemann schreibt George unter dem Pseudonym Jean Bagnol Provencekrimis und unter Klarnamen (Jens & Nina) Kinderbücher für Acht- bis Zwölfjährige. Die 49-Jährige war von 2019 bis 2023 Präsidentin des European Writers’ Council und ist heute seine Ehrenpräsidentin und Kommissarin für politische Angelegenheiten. Sie gründete mehrere Initiativen wie das Portal Frauenzählen oder das Netzwerk Autorenrechte. Für ihre ehrenamtliche politische Tätigkeit erhielt sie 2022 das Bundesverdienstkreuz.

Zurzeit kaut sie sich die Nägel ab und wartet auf das Go für eine Serienverfilmung des „Lavendelzimmers“ und des „Bücherschiffs“, schreibt derweil an Band 3 um den Pariser Buchhändler und literarischen Apotheker Jean Perdu oder verfasst Eingaben an das Europäische Parlament zum Thema KI.

4.           Welche Ecken der Stadt meiden Sie?

Keine. Welt ist Welt. Es kommt allerdings aufs Timing an – während der warmen Saison ist ein Ausflug nach Mitte so reizvoll wie ein Pärchen-Samstag bei Ikea plus klebriges Disneyland.

5.           Ihr ultimativer Gastro-Geheimtipp?

Chez George. Ich bin als Gastronomiekind in der Küche aufgewachsen und restlos verdorben, was den Wunsch nach Qualität oder geschmacklicher Befriedigung angeht – ich koche folglich vorzugsweise selbst und kann keinerlei seriöse Auskunft über all die großartigen Küchen geben. Deswegen würde ich eher sagen, dass ich gerne auf die Suche nach Zutaten gehe, auf Märkte oder zu Non-franchise-Lebensmittelanbietern – am Breslauer Platz etwa gibt es einen Stand mit unfassbar gutem Gemüse aus dem Umland, bei Lüske in Lichterfelde findet man tolles Fleisch, in der Marheineke-Markthalle im Bergmannkiez sind die Pasteten von Le Bretagne unfassbar gut …

6.           Ihr ultimativer Shopping-Geheimtipp?

Ich bin nicht gut im Shopping, je älter ich werde. Was braucht man denn noch, was man meist eh schon hat? Gut, außer Bücher. Aber das ist nicht Shopping. Das ist Atmen.

7.           Der beste Stadtteil Berlins ist … 

… immer der eigene Kiez. Egal, wie er aussieht. Egal wie abgeranzt oder hochgejazzt. Weil er aufgeladen ist mit Beziehungen, Erinnerungen, Begegnungen; und mein zerzauster Kiez in der unmittelbaren Nähe der Schöneberger S-Bahn ist für mich der beste – da ich genau weiß, wo ich den richtig gut gerösteten, sortenreinen Kaffee bekomme. Da ich nur auf Kaffee rund laufe, und sonst keine Zeile schreiben kann, ist das ein legitimer Grund.

8.           Das nervt mich am meisten an der Stadt:

Es gibt zwei Sorten schlechte Laune in Berlin: Die Kodderschnauze, die es genießt, erst rumzuraunzen, einen Zurückraunzer möglichst schlagfertig zu kassieren und sich dann genüsslich in die Wolle zu kriegen. Das ist wie Icke damals. Liebe ich. Und dann die misanthropische Laune, fies, zynisch, feindselig, eine kollektive Grumpigkeit und verbissene Mundwinkel. Kenn ich aus keiner anderen Gegend, und ich komm ein bisschen rum.

9.           Was muss sich dringend ändern, damit Berlin lebenswert bleibt?

Mieten deckeln. Bezahlbarer Raum für die freie Kunstszene. Mehr koordinierte Hilfe für Obdachlose, Vertriebene, das lastet zu oft zu viel auf privatem, ehrenamtlichen Engagement. Mehr Straßen­begrünung. Zugewandtere Sozialpolitik. Mehr Stellen, um die verflixten Pässe zu verlängern. Und auch wenn die Roller so nice und supi sind: Könnten wir uns darauf einigen, sie nicht so scheiße im Weg stehen zu lassen?

10.         Ihr Tipp an Unentschlossene: Nach Berlin ziehen oder es lieber bleiben lassen?

Es gibt keine falschen Entscheidungen. Nur keine Entscheidungen. Wenn’s triggert, mach halt. Leben ist fürs Leben da. Und beschwer dich später.

11.         Cooler als Berlin ist nur noch …

Das surreale Berlin deiner Träume.

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